Heute grabe ich mal wieder in meiner Kind-Jugendzeit und lange-davor-Kiste…
Als Zwölfjähriger ist unser Vater mit seiner Mutter von Langen bei Frankfurt in 1925 nach Buenos Aires zu seinem Vater nachausgewandert. Dort blieb die Familie bis unser Vater seinen Schulabschluss hatte.
Sie wanderten weiter nach Paraguay, dort vergab der Staat günstig Grundstücke oder besser gesagt Urwaldstücke. 20 Hektar pro Mann. Mit 40 Hektar Wald begann unser Leben in Paraguay. Das heißt, wir sind erst später hinzugekommen.
Es wurde gerodet, angepflanzt und gebaut. Mein Vater verdiente sein Brot als Händler. Er fuhr mit den Ochsenkarren zum nächsten Ort (ca. 40Km entfernt) kaufte Lebensnotwendiger Proviant für die Heimischen Läden. Zucker, Mehl, Seife, ein paar Stoffe und Werkzeuge und fuhr wieder heim.
Ich kann mich erinnern, als Kind verbrachte ich sehr viel Zeit mit meinem Vater und er erzählte mir sehr viele Geschichten aus dieser Zeit.
Bald merkte er, es ist nichts Ganzes und nichts Halbes. Er ging zurück nach Buenos Aires und studierte Zahnmedizin und Zahntechnik. Seinen Lebensunterhalt bestreite er mit Gelegenheitsjobs.
Als er sein Studium beendete und sich „Dentist“ schimpfen durfte, kehrte er zurück nach Paraguay. Im Gepäck eine Sammlung von den Nötigsten Instrumenten um seinen neuen Beruf auszuüben. Da war es nötig den Zoll zu umgehen und beschloss den Paraná Fluss etwas nördlicher zu überqueren. So landete er in einen kleinen Ort „Cambyretá“ wo unsere Mutter geboren und mit weiteren sieben Geschwistern aufwuchs. Mutter stammte auch aus einer deutschen Familie, doch ihre Eltern sind auch schon in Argentinien bzw. Brasilien geboren.
Unsere Mutter wurde gerade 18 und drei Wochen nachdem sie sich kennenlernten, wurde geheiratet und sofort nach Independencia gezogen zu den Eltern unsers Vaters. Da die keine Ahnung hatten und schon eine passende Partie für den Heimkehrenden fast-Akademiker gefunden hatten, war das Chaos nicht mehr zu vermeiden.
Aus dieser Ehe sind wir vier Kinder entstanden. Zwei Jungs und zwei Mädels in dieser Reihenfolge. Ich bin die Jüngste.
Ich will jetzt aber nicht weiter in den Familienverhältnissen eingehen, sondern über meinen Vater sein Berufsleben schreiben.
Seine Praxis, einen angebauten Raum, ist in meiner Erinnerung immer mit ein wenig Abenteuer verbunden. Wie soll ich es beschreiben? Mit heutiger Interpretation und mit ehemaligen Kindes Empfinden… Folterkammer, Museum, Mini Zoo, Gefahr, Geruch von Brennspiritus und irgendwie sehr aufregend. Ja genau, so war das! Ich erklär auch warum!
Folterkammer; es jagte uns wahnsinnige Angst ein! Damals gab es noch kein Strom. Zahnborer wurde mit Fuß pedal betrieben und es fühlte sich an, als wird das Gehirn angebohrt. Ich bin mir sicher, aus dieser Zeit stammt meine „Spritzen-Phobie“!
Die Einrichtung war Klasse! Ein kleines Schränkchen mit Glastür für die Instrumente.
Einen Holzstuhl (so wie man ihn in alten Westernstreifen sehen kann) mit höhenverstellbarer Nackenlehne. Dahinter ein kleines Regal mit Stoffvorhang für die Gebissepressen.
Hier ein Foto das mein Mann damals gemacht hat. Mein Vater; nur so kannte ich ihm, mit kurzer Hose und freiem Oberkörper. Immer spindeldünn! Er machte mir gerade einen Abdruck als wir dort im Urlaub waren. Meine Füße legte ich bequem aufs Fenstersims!
Ein Foto als Student in Buenos Aires. War doch mal ein hübscher Kerl! Übrigens, ich bin die, die ihm am meisten ähnelt. Zumindest meine hübschen langen Beine… Ha ha!
Zurück zur Praxis; Neben den Stuhl stand der Spucknapf. Das Ding war auch Museumsreif! Das war wie so einen Barhocker mit Loch und darunter stand ein emaile Nachttopf! Manchmal mussten wir ihn auslehren… igitt, wenn ich daran denke!
Dann stand noch ein weißer Schrank im Eck. Nicht sehr groß und auf lange Beine. Dieser Schrank stand ca. 5cm von der Wand entfernt und dahinter wohnte jahrelang eine Fledermaus. Das war so aufregend, wir durften uns immer ganz leise ran schleichen und sehen wie sie dort hing und schlief. Nachts konnte sie dann durch die Decke raus.
In dem Schrank befanden sich weitere, für uns Kinder aufregende Sammelstücke unsers Vaters. Zum Beispiel Schlangen und Bandwürmer die in mit Brennspiritus gefüllten Gläsern lagerten. Komisch gewachsene Zähne, usw.
Doch wenn wir Zahnschmerzen hatten, dann haben wir immer versucht es so lange wie nur möglich zu verheimlichen. Oder wie ließen uns nur von unserer Mutter behandeln. Ja, das ist richtig… Mutter war erst seine Assistentin und lernte so nach und nach alles was mein Vater darüber wusste, inklusive die Herstellung von Gebissen. Nicht nur wir Kinder bevorzugten die Weibliche Behandlung, sondern auch immer mehr Patienten. Aber das war damals der „Wilde Westen“ in Südamerika. Einmal waren unsere Eltern nicht da, da kam eine einheimische Patientin mit starken Schmerzen und entzündeten Zahn, unser großer Bruder war gerade zwölf, da zog er den Zahn.
Ja, das war die eine Seite der Praxis. Darüber hinaus sind meine Eltern auch als Wander-Dentisten immer unterwegs. Ganz früher oft mal ein paar Wochen im Chaco und behandelten die Mennoniten.
Oder alle zwei Wochen zu den nächst gelegenen Kolonien geritten. Da befand sich die gesamte Praxis in den Satteltaschen.
Außer seine Tätigkeit als Dentist, hatten wir Landwirtschaft mit allem was dazugehört und Zeitweise auch Weinkellerei. Doch irgendwie, lief alles nicht so gut für unsern Vater. Er war nicht sehr beständig und rannte ständig neue Ideen hinterher, die meisten schon vor Vollendung wieder abgebrochen wurden. Wie so viele Einwohner dort und zu der Zeit, wurde auch er gesteuert vom hohen Alkohol Konsum.
Im Großen und Ganzen, hat mein Vater mir nicht nur traurige Erinnerungen hinterlassen, sondern war für mich auch ein wunderbarer Mensch. Ich weis auch, dass nicht sehr viele Menschen diese Meinung mit mir teilen. Leider neigte er dazu, Menschen dazu zu bringen ihm aus dem Weg zu gehen, anstatt diesem mit ihm zu gehen.
Hier noch ein Foto, Sommer 1978/79 ich war Anfang vierten Monat mit Sonja und Lachkrampf. Er mit seiner „Alltagsuniform“ und seinem Markenzeichen; „Zigarrenstummel“ zwischen den Fingern!
Es gibt fast keine Fotos ohne seinen Stummel! Selbst zu meiner Hochzeit, tanzte er mit mir und lies seine Zigarre nicht los! Letztendlich kostete es auch seinem Leben. Er hatte seine Heimat Deutschland nie wieder gesehen und starb an Lungenkrebs kurz vor seinem 70ten Geburtstag.
Ich denke oft an Dich, „Don Ernesto“ und hoffe Deine Seele hat nun das gefunden, wonach Du vergebens auf Erden gesucht hast.